Sie schrak auf
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Es war noch dunkel.
Das Feuer war schon vor einigen Stunden erloschen, nur die schwache Glut tauchte die nähere Umgebung in ein weiches,
schummriges Rot.
Hatte sie nicht eben Airach schnauben gehört, oder war es nur ein Traum?
Sie betrachtet aus müden Augen ihr Reittier. Das Pferd lag wie gewohnt dicht neben ihr am Lagerplatz.
Sein Kopf war leicht erhoben, die Ohren gespitzt, und sie deuteten in eine Richtung zum Wald;
zumindest vermutete die Kriegerin das,
da sie bei dem schwachen Licht nur die verschwommenen Umrisse ihres Hengstes erkennen konnte.
Doch das plötzliche Knacken von trockenen Ästen unter schweren Sohlen ließ sie aufschrecken.
Angestrengt spähte sie in die Richtung, konnte jedoch außer Dunkelheit nichts erkennen.

Der Himmel war stark bewölkt, und nur selten schaute das blasse Antlitz des Mondes hinter den schwarzen Wolkenfetzen hervor,
durchbrach das lichte Blätterdach des Waldes und sorgte so für etwas bessere Lichtverhältnisse.
Es war auf einmal unnatürlich still.
Die Nächte zuvor hatte sie noch das beruhigende Zirpen der Grillen oder den melodischen Gesang der Nachtigallen vernommen,
doch diesmal drang nur ein rasendes Klopfen aus ihrem Inneren und der hastige Atem Airachs an ihr Ohr.

Wegelagerer? Waldelfen? Womöglich sogar ein größeres Raubtier,
daß auf Nahrungssuche war und jetzt scheinbar etwas gewittert hatte?
Oder gar Orks, Goblins, Kobolde und Trolle?
Bilder von bestialischen Kreaturen zuckten wie Blitze vor ihrem geistigen Auge auf und
verschwanden ebenso schnell in den tieferen Gefilden ihres Geistes.

Sie tastete nach ihrem Schwert und war froh, als sie das kalte aber vertraute Eisen in ihren feuchten Fingern spürte.
Es dauerte auch nicht lange, bis sich ihre Augen schließlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Jetzt vermochte sie schemenhaft dichtes Buschwerk sowie den umgestürzten Baum zu erkennen,
unter welchem sie ihr Nachtlager am gestrigen Abend aufgeschlagen hatte.
Als die Kriegerin ein plötzliches Knacken ganz in seiner Nähe vernahm,
fuhr sie blitzartig auf und zog das Schwert aus der Scheide.
Das klirrende Geräusch von Stahl durchschnitt die Stille der Nacht.
Die dunklen Wolken zogen ängstlich gen Süden,
und das weiße Licht des Mondes tauchte nun sein angstverzerrtes Gesicht in ein gespenstisches Schimmern.

Ein Knoten der Angst bildete sich in ihrer Bauchgegend,
als sich die schweren Schritte eines Zweibeiner langsam auf sie zu bewegten.
Angestrengt spähte sie in die Finsternis und erkannte plötzlich eine schwarze Silhouette,
die sich unwirklich aus der Dunkelheit des Waldes manifestierte.
Airach bäumte sich wiehernd zu voller Größe auf, wobei seine Vorderläufe in der Luft wirbelten,
um den Unbekannten Respekt einzuflößen.
Danach stand der schwarze Hengst auf seinen Läufen und begann am ganzen Körper zu zittern.

Die Gestalt blieb im Schatten der Bäume stehen. Sie erreichte die Größe eines Menschen,
hatte jedoch deutlich breitere Schultern und längere Arme.
Der Kopf war ebenfalls breit und flach und saß direkt zwischen den Schultern, nur von einen kurzen, dicken Hals getragen.
Die Gestalt ähnelte entfernt der eines Menschenaffen,
aber diese bewohnten weder Laubwälder noch lebten sie in den nördlichen Regionen.

Die Kriegerin stand auf der durch fahles Mondlicht erhellten Lichtung, das Schwert bedrohlich über ihrem Kopf schwingend,
den Blick auf den schwarzen Schatten gerichtet, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand.
Sie vernahm nicht nur den Atem der Gestalt, sondern auch den fauligen Gestank,
der von ihr ausging und die Kriegerin stark an den Geruch von Blut und Exkremente erinnerte.

Doch zu spät bemerkte sie die rotglühenden Augenpaare dicht neben ihr,
und zu spät hörte sie das leise Zischen eines spitzen Pfeils,
der sich mit ungeheurer Schnelligkeit durch ihre Kleidung fraß und in ihre rechte Hüfte bohrte.
Mit einem lautlosen Staunen betrachtete sie den Schaft, der nur wenige Zentimeter aus ihrer Seite ragte.
Ein stechender Schmerz breitete sich blitzartig in ihrem Körper aus,
als das Blut die giftige Substanz in sämtliche Körperteile trug und diese dann lähmte.
Unfähig, Laute mit ihrem Mund zu formen und ihre Stimmbänder anzuspannen,
ließ die Kriegerin ihr Schwert fallen und faßte mit der Hand intuitiv an ihre stark blutende Wunde.
Das verzerrte Kichern aus ein Dutzend Kehlen,
das panische und schmerzerfüllte Wiehern Airachs und die schweren Schritte der großen Gestalt,
die sich nun auf sie zu bewegte, schienen ihr weit, sehr weit entfernt.

Ihr Blickfeld verengte sich zu einem schmalen Tunnel, die Schmerzen ließen abrupt nach,
und sie sackte mit geöffneten Augen zu Boden.

Deutlich erkannte sie die hellen Sterne am schwarzen Firmament. Sie erinnerten sie an viele kleine Kerzen,
die den hoffnungslosen Versuch unternahmen, gegen die unendliche Finsternis anzukämpfen.
Doch plötzlich begannen die Kerzen sich zu bewegen, als würden sie von unsichtbaren Tänzern gehalten.
Sie tanzten um einen Kreis, ihre graziösen Bewegungen wurden immer schneller und schneller;
nun drehten sie sich und zogen einen langen Schweif aus weißem Licht hinter sich her.
Die Kriegerin genoß dieses Schauspiel.
Sie wollte mit ihnen tanzen, denn sie fühlte sich leicht, körperlos.

Noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben hatte sie ein solches Gefühl verspürt ... ein Gefühl,
nein, vielleicht sogar ein Bewußtsein von körperloser Freiheit;
Ihr Selbst war scheinbar verschmolzen mit der Unendlichkeit des Sternenhimmels.
Doch das Gefühl der Vollkommenheit verließ sie ebenso schnell, wie es sie zuvor überkommen hatte.

Ein schwarzer Schatten schob sich vor die lautlosen Tänzer und es schien, als absorbierte er ihr Licht,
als sog er ihre Energien in sich auf. Die schönen Schweife verloren sich in der Dunkelheit,
und schließlich erloschen die einst unlöschbaren Flammen,
als hätte ein dämonischer Wind ihr Lebenslicht mit sich gerissen und in gottlose Schwärze geführt;
auf das ihre gequälten Seelen auf ewig das Lied des endloses Leiden verkündeten,
ohne jemals an die Ohren eines Sterblichen zu dringen.

Die Kriegerin verspürte ein Gefühl der totalen Hilflosigkeit.
Gelähmt vor Furcht konnte sie nicht fliehen, nicht schreien, nicht den Blick von dem bedrohlichen Schatten abwenden,
der zu gigantischer Größe aufwuchs und sich über die kleine Gestalt erhob.
Zwei blutrote Lichter flammten auf, als sich die nicht sichtbaren Lider öffneten.
...
dann brach die Finsternis wie eine unaufhaltsame Welle der Furcht über ihr zusammen und erstickte sie.

Justin ... Justine ...

Vorsichtig schob sie die goldenen Blätter zur Seite und betrat dann die Lichtung.
Das sanfte Plätschern von klarem Wasser und der melodische Gesang von paradiesischen Vögeln
mit leuchtenden Gefieder drang an ihre Ohren und vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Glückseligkeit.

Als sie in das Licht trat, reflektierte das silberne Kettenhemd die warmen Strahlen der Sonne und umgab die Kriegerin
mit einem leicht goldenen Glanz. Ihr uraltes Schwert, welches sie noch von ihrem Vater geerbt hatte,
hing in der aus edlem Stahl gefertigten Scheide, die durch längst vergessene Runen aus grauer Vorzeit verziert war.
Der Griff des Schwertes sowie die Scheide schimmerten in einem schwachen Blau,
während die Runen in einem feurigen Rot leuchteten.

Sie stand auf einer leichten Anhöhe,
von wo aus sie die gesamte Schönheit dieses Ortes ungestört überschauen und genießen konnte.

Zu ihren Füßen befand sich ein großer, glitzernder Teich, in dem ein klarer Gebirgsbach mündete,
der vermutlich in dem weit entfernten Gebirge entsprang,
welches majestätisch aus der Landschaft emporragte und dessen Spitze sich im nebligen Wolkendach verbarg.
Einige graue Felsen erhoben sich neben dem Teich, auf denen sich stellenweise verschiedene Arten von Moosen verbreiteten;
sie schienen sich um den höchstmöglichen Platz zu streiten, der sie näher zur wärmenden Sonne brachte.
Zusammen mit dem grünlichen Bewuchs wirkten diese grauen Riesen wie stumme Wächter,
auf deren Rücken die Last von Jahrtausenden lag und sie leicht krümmte.
Der sanft rauschende Bach bewegte sich wie eine silberne Schlange zischend durch die grünen Wälder;
hinterließ fruchtbare Ufer, an denen sich die farbenprächtigsten Blüten aneinanderreihten,
um ihre Schönheit dem staunenden Betrachter zu offenbaren.

Justine beugte sich nieder und schöpfte vom kühlen Naß des Teiches ... doch es schmeckte unangenehm bitter.
Eine leichte Brise keimte plötzlich auf,
streifte sanft ihr langes, schwarzes Haar und warf sich spielerisch gegen ihren roten Umhang,
um ihn mit Wellen zu durchpflügen.

Sie verlor jegliches Gefühl für Zeit, als sie weiterhin die seltsam vertraute Landschaft betrachtete,
sich von ihr beherrschen ließ, in sie eindrang, und mit ihrer Vertrautheit verschmolz.

War dies das ersehnte Licht am Ende eines langen, schwarzen Tunnels?

Oder war es ein einfacher Traum, bloß ein Blick in eine phantastische Scheinwelt?

... sie wußte es nicht ...

Und war sie ein lebender Teil dieser Welt, oder nur ein Bruchstück, ein winziger Gedanke ihrer eigenen Phantasie?

War dies das göttliche Leben? ... oder nur der geschmackvolle Übergang vom vergangenen Leben in den Tod?

Wo war dann der Tod? Was war dann der Tod? Ein schwarzes Tor in eine bessere Welt?
Ein Richter, der den wartenden Seelen ihre guten sowie schlechten Taten aufwog und sie dann eines Weges verwies?

... sie wußte es nicht ...

Konnte sie sich entscheiden? Hatte sie eine Wahl?

... sie wußte es nicht ...

Jedoch nahm sie etwas anderes wahr ... der bittere Geschmack in ihrem Munde ließ sich nicht hinfort spülen.

"Fort von hier! Dieses Reich ist vergiftet!"

Die hohle Stimme dröhnte durch das grüne Tal.
Einer der grauen Wächter hatte sich erhoben und deutete mit seiner geballten Faust aus Stein vorwurfsvoll auf die Kriegerin.
Kleine schwarze Augen blitzten bösartig auf, als er mit plumpen, schweren Bewegungen auf sie zu schritt.

"Nein, niemals! Ich werde niemals dein Reich verlassen!"
Die Furcht,
diesen vertrauten Ort zu verlassen ließ die unsichere Stimme der Kriegerin erbeben und schoß Tränen in ihre Augen.

"Du Närrin! Deine Augen sind getrübt. Deine Saat ist bereits gekeimt. Und die Ernte ..."

Die steinerne Hand des Wächters deutete zum entfernten Gipfel, der sich hinter schwarzen Wolkenfetzen verbarg.

" ... soll nun auch die Deine sein!"

Mit angstverzerrten Gesicht blickte die Kriegerin irritiert zu dem grauen Giganten.
Leise, kaum hörbare Schreie des Entsetzens drangen an ihre Ohren; sie schienen vom verschleierten Gipfel zu kommen.
Es waren hundert, nein ... mehr als tausend Schreie aus schier endlos gepeinigten Kehlen.
Sie vernahm die Stimmen von Männern, Frauen und sogar die von Kindern;
sie alle baten ein letztes Mal mit schmerzverzerrten Kreischen um Hilfe
...

doch ihr Schicksal wurde schon bereits in geraumer Vorzeit bestimmt.

Und sie kannte diese Stimmen ...

es waren die Stimmen von Männern, die voller Haß ihren Namen verfluchten, und erst schwiegen,
als ihre Köpfe von den Rümpfen getrennt wurden ...

es waren die Stimmen von Frauen, die ihr etwas sagen wollten,
doch statt Worte wie Erbarmen, Mitleid und Vergebung drang nur ihr eigenes Blut durch die geöffneten Münder ...

es waren die Stimmen von Kindern, welche sie mit großen, traurigen Augen ein letztes Mal anstarrten,
bevor ihr Schwert ihre kleinen Körper ...

"Betrachte dein Werk, denn du allein hast es geschaffen!"

Nahezu betäubt vor Entsetzen vernahm sie nur flüchtig diesen Vorwurf.
Ihr war es unmöglich zu schlucken; irgend etwas Großes steckte in ihrer Kehle und bereitete ihr unvorstellbare Schmerzen.

Ihre Hände verkrampften sich plötzlich und sie mußte sich unkontrolliert übergeben.
Weiße Flecken flackerten vor ihren Augen auf und sie brach würgend zusammen ... der Fluß hatte sich blutrot gefärbt.

"Dies ist Dein Reich, Justine Cavallo!"

Sie schrak auf.

Es war noch dunkel.
Das Feuer war schon vor einigen Stunden erloschen, nur die schwache Glut tauchte die nähere Umgebung in ein weiches,
schummriges Rot.
Hatte sie nicht eben Airach schnauben gehört, oder war es nur ein böser Traum ...

niedergeschrieben von Justine Cavallo